Führung beginnt beim Gegenüber
„Mist … Ich glaube, ich muss die Mitarbeiterin entlassen.“
Da klappte mir aber für eine Sekunde die Kinnlade herunter. Vor mir saß im Coaching eine gestandene Führungskraft, bereits jahrelang im Unternehmen, die mehr als einen Führungserfolg vorweisen konnte. Und dann das: Nach einem Zwischenfall mit einer Mitarbeiterin glaubte die Karrierefrau, sie müsse eben diese direkt vor die Tür setzen.
Echte Führung sieht für mich anders aus.
Gelernt, gezetert, gescheitert
Tatsächlich wurde im Gespräch schnell klar: Hier hatte sich ein simples Missverständnis übertrieben hochgeschaukelt. Meine Kundin hat ihre Führungserfahrung im technischen Bereich des Unternehmens gesammelt. Seit Kurzem untersteht ihr nun der kaufmännische Bereich – und mit ihm eine völlig andere Sorte Mitarbeiter.
Vom rau-herzlichen Ton der Produktion hat es die Frau in eine Abteilung verschlagen, in der sie nun zum ersten Mal auch weibliche Kräfte führt. Das Ergebnis: Ihr über Jahre erlerntes und in einem anderen Kontext erprobtes Führungsverhalten gerät schlagartig an seine Grenzen.
Sie hatte sich eine ihrer Mitarbeiterinnen „zur Brust genommen“ – so, wie sie es aus ihrem alten Bereich gewohnt ist. In der Folge meldete die verschreckte Mitarbeiterin sich drei Wochen krank. Mit Kopfschmerzen.
Plötzlich unter Druck
Nun lassen Sie uns einen Moment hinschauen: Ja, natürlich leidet unter der Situation die Mitarbeiterin, die sich eine Ansage gefallen lassen musste. Doch auch die Führungskraft war durch die Konstellation unter erheblichen Druck geraten. Durch ihren ruppigen Umgangston hatte sie sich in die prekäre Lage versetzt, eventuell eine Mitarbeiterin zu verlieren – und das bereits nach so kurzer Zeit in ihrer neuen Position. Hinzu kam, dass die Mitarbeiterin ebenso viel Schaden anrichten könnte, wenn sie im Team bliebe. Denn schafft die Vorgesetzte es nicht, sie mitzunehmen, wirkt ihre Haltung unter Umständen wiederum destruktiv aufs ganze Team.
Kein Wunder also, dass – aus ihrer Sicht der Dinge – plötzlich der Gedanke an eine Entlassung im Raum stand. Unglaublich!
So unglaublich für mich, dass ich mit nur einer Frage darauf reagieren konnte: „Haben Sie denn schon einmal ein Gespräch mit Ihrer Mitarbeiterin zu Ihren Erwartungen und Anforderungen geführt?“ Nein, hatte sie nicht. Sie hatte in altgewohnter Manier gleich hart „durchgegriffen“ und eine Abmahnung angekündigt. Und merkte nun selbst: Sie gerät vor allem deshalb unter Druck, weil sie nicht in ihrem gelernten Führungsverhalten bleiben kann.
Stahlschuhe gegen Wattebällchen
Führung ist immer auch abhängig davon, wer Ihnen gegenübersteht. Entsprechend gehört zur Führungsaufgabe auch die Herausforderung, dass Sie eine möglichst hohe Varianz und Anpassungsfähigkeit zeigen. Damit Sie sowohl den harten 50-jährigen Monteur als auch die sensible 25-jährige Mitarbeiterin im Einkauf angemessen führen können, wenn wir einmal in Klischees sprechen wollen.
Damit meine ich nun keineswegs, dass sie für manche Mitarbeiter die Stahlschuhe und für andere die Wattebällchen bereitlegen sollten. Bitte nicht! Ich möchte Sie vielmehr auffordern, hinzusehen und zuzuhören. Wer steht mir da gegenüber? Wie ist der gestrickt? Und dann mit Ihren Mitarbeitern in Kommunikation zu gehen. So erfahren Sie, mit welcher Art von Führung Sie jeden Mitarbeiter in Ihrem Team mitnehmen können.
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der passgenauen Führung Ihrer Mitarbeiter!
Mit besten Grüßen
Ihre Sabine Dietrich